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Erzählen als Gerechtigkeit. Walter Benjamins Idee des Erzählens.
Warum erzählt man sich und: warum geschieht das heute immer weniger? Die Frage nach der Kunst des Erzählens hat Walter Benjamin zeit seines Lebens umgetrieben – er hat, schon als Kind passionierter Hörer und Leser, überdeutlich gespürt, dass in Erzählungen eine besondere Kraft verborgen liegt, die mit jedem Verlautbaren des Erzählten neu entfesselt zu werden vermag. Auseinandersetzungen mit dem, was das Erzählen ausmacht, Annäherungen von verschiedenen Seiten durchziehen denn auch sein gesamtes Werk, treten zuweilen an überraschenden Stellen hervor. Meist sind es die Texte bestimmter Schriftsteller, von denen her er die Frage neu zu erfassen sucht – Johann Peter Hebel, Nikolai Lesskow, Franz Kafka, E.T.A. Hoffmann, Oskar Maria Graf, Alfred Döblin oder Robert Walser gehören zu jenen, an denen Benjamin je etwas Charakteristisches des Erzählers vorfindet: Eine tief in deren Erzählungen verankerte Gerechtigkeit, eine erzählerische Gerechtigkeit, die nicht dem Dienste irgendwelcher Dogmen oder Prinzipien sich verpflichtet meint, sondern die ›von Fall zu Fall‹ den Menschen – und der Kreatur – zur Hilfe eilt. So ist es für Benjamin eine besondere Form des Rats, die jedem Erzählen zugrunde liegt – ein Rat, der nicht abstrakt ist, sondern der vom Hörer oder Leser immer wieder je neu aufgefangen werden muss. Erzählen folgt darin einem veritablen märchenhaften Impuls: Durch das Erzählen wird scheinbar Schicksalhaftes seiner mythischen Gewalt entkleidet und die in ihm gefesselt liegenden Kräfte für ein glückliches Leben freigesprengt. Erzählen hat für Benjamin darum eine heilende Kraft – es ist eine Kraft, wie sie sich durch Scheherazade in den Erzählungen von Tausendundeiner Nacht manifestiert, es ist die Kraft des Zaddik: des Gerechten.
Die Idee des Erzählens zu erfassen ist indes ein dringendes, unaufschiebbares Unterfangen: Die Fähigkeit, zu erzählen, verliert sich mehr und mehr, wie Benjamin schon in den 1920er Jahren konstatiert. Erzählen meint dabei immer auch: hören können, wahrnehmen können im emphatischen Sinne. Dieses Vermögen verliert sich aber zunehmend, weil Mythisches in neuer, unkenntlicherer Gestalt die Neuzeit und Moderne mehr und mehr durchzieht und die Menschen in neue, unbekannte Starre versetzt, die sie zwar viel reden, in Wahrheit aber doch verstummen lässt. Der Nationalsozialismus, der auch Benjamin seines Leben beraubte, ist deutlichste Manifestation dieses Mythischen – er ist nicht seine einzige. Erschreckend die Kontinuitäten, die von hier aus sich bis heute erstrecken und die nach wie vor Erzählen im eigentlichen Sinne verunmöglichen. Benjamin konnte seine Überlegungen zum Erzählen selbst nicht mehr in der Form bündeln, wie er es sich gewünscht hatte – mein Anliegen ist es darum, die vielen verstreuten Überlegungen, die sich in seinem Œuvre finden lassen, zu sammeln, in Konstellation zu bringen und zu deuten. In der Hoffnung, dass so eine Idee des Erzählens allgemein zugänglich wird, die sich nicht als akademisches Verwaltungsinstrument versteht, sondern die selbst das Potential zum Aufsprengen des Mythischen in sich trägt.
Dissertationsprojekt, betreut durch Prof. Dr. Dirk Oschmann, Univeristät Leipzig
Wissenschaftliches Kurzprofil
Germanistin, M.A., und Theaterwissenschaftlerin, M.A.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik, Univeristät Leipzig
(2017–2022).
Vertretung am Schauspielinstitut Hans Otto, Hochschule für Musik und Theater Leipzig: Theatergeschichte des langen 19. Jahrhunderts. Arbeit mit Schauspielstudenten. (2019/20).
Derzeit Arbeit an einer Dissertation über Erzählen als Gerechtigkeit. Walter Benjamins Theorie des Erzählens (s.o.).
Forschungsschwerpunkte
Literatur und Theater der Neuzeit | Im Besonderen des Barock, der Frühromantik sowie der Klassischen Moderne.
Theorien des Erzählens | Doppelbödiges Erzählen.
Formen komödiantischen Theaters | Formen bürgerlichen Theaters.
Literatur und Theater als Spiegel geschichtlicher und gesellschaftlicher Prozesse.
Kritische Theorie und Utopie der Literatur und des Theaters.
Literatur, Theater und Psychoanalyse.
Vorträge
Dem Mythos Herr werden – Brechts ›Baal‹ und Verdis ›Nabucco‹. (2013, Universität Leipzig)
Ein „tragisch-lyrisch-comisch-pantomimisch-burlesquisch-bastardisch-hermaphroditische[r] Mischmasch“ – Die Figur Kurz-Bernardon als Erzähler. (2016, Universität Leipzig)
Vom Verirren der Sprache in sich selbst. Lyotard und das postmoderne Wissen. (mit Martin Mettin, 2017, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)
Der Trotz der Scheherazade – Erzählen als Kritik des Leidens (2017, Freie Universität Berlin)
Sigmund Freud und das komödiantische Theater .(2018, Freud-Workshop, Dahme)
Erzählen als Gerechtigkeit .(2019, Forschungskolleg Kritische Theorie, Universität Kassel)
Offenheit als Programm. Theater- und literaturgeschichtliche Betrachtungen. (2019, Hochschule für Musik und Theater Leipzig)
Der erste Ratgeber – Zum Verhältnis von Märchen und Erfahrung bei Walter Benjamin. (2019, Universität Leipzig)
Festschreiben oder Aufsprengen? – Zu den epistemologischen Implikationen von Romanschreiben und Geschichtenerzählen nach Walter Benjamin. (2022, Universität Leipzig)
Veröffentlichungen
Das bürgerliche Schauspiel im Visier zeitgenössischen Theaters. In: Offenheitsästhetik. Gründe und Abgründe, hrsg. von Gesa Foken und Marthe Krüger, Wiesbaden: Springer (2021).
Vom Trotz der Scheherazade – Erzählen als Kritik des Leidens. In: Kritiken des Leidens, hrsg. von Erika Benini und Anne Eusterschulte, Berlin: Neofelis Verlag (voraussichtlich Frühjahr 2023).
Lehrveranstaltungen
Tutorium | Einführung in die Literaturwissenschaft
Seminar | Das Märchen und seine Theorien
Seminar | Theatergeschichte des langen 19. Jahrhunderts (Vertretung am Schauspielinstitut Hans Otto, Hochschule für Musik und Theater Leipzig)
Seminar | Widersprüche der Moderne in Kafkas ›Verschollenem‹
Seminar | Theorie und Geschichte des bürgerlichen Schauspiels
Seminar | Erzählen als Kunst der Vergegenwärtigung. Das Unglück von Falun und sein Echo in der Literatur
Seminar | Walter Benjamin als Literaturtheoretiker
Seminar | Ludwig Tiecks ›Phantasus‹

